Miserikordias Domini, 29.4.1979 Erlangen Neustadt
Joh 10,11-16
Liebe Gemeinde,
wenn einer eine Sache versteht, sagen wir: Er blickt durch. Der kennt sich aus. Wenn mein Auto eine Panne hat, ist es gut, dass der Mechaniker dort durchblickt, wo ich nicht mehr weiter weiß. Wenn meine Steuererklärung fällig ist, ist es gut, dass der Steuerberater dort durchblickt, wo ich mich nicht mehr auskenne. Wenn meine Ehe in eine Krise gerät, wenn ich meinen heranwachsenden Kindern nicht zurechtkomme – sicher, auch dann kann ich mich beraten lassen. Aber ob ich da jemand finde, der den Durchblick hat, der mir fehlt? Wenn ich gar sehe, wie es um mich herum zugeht in der Welt, und mich frage, wie das überhaupt noch weitergehen soll – blickt da überhaupt noch jemand durch?
Wenn Jesus sagt: „Ich kenne den Vater“ – dann beansprucht er für sich diesen umfassenden Durchblick. Der Vater, Gott, ohne den geschieht ja nichts. Der hat diese Welt in der Hand, auch wo wir selbst gewiss nicht durchblicken. Jesus sagt: Er kennt mich – ich kenne ihn. Gott sei Dank, dass es so ist! Gewiss könnte ich nun gleich mit hundert Fragen kommen, was das denn heiße, und wie sich das begründen lasse, und was das für uns bedeute. Lassen wir diese Fragen einmal anstehen: Jesus hat diesen umfassenden Durchblick, Gott sei Dank! Gott sei Dank, der ihn von den Toten auferweckt hat, damit wir wissen, wie wir mit ihm dran sind. Fragen und antworten, argumentieren und zeigen und begründen – das, was mein alltägliches Geschäft als Theologieprofessor ist: Das kann hinterdrein kommen. Aber voraus geht der Dank, dass da einer ist, der durchblickt, wo wir nicht weiter wissen, einer, der uns nicht hängen lässt: „Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und bin bekannt den Meinen, wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater.“ Jesus blickt durch, er kennt sich aus – und er kennt uns, wir kennen ihn. Gelobt sei Gott, dass es so ist.
1. Fangen wir nun damit an, dem nach zu denken, was das heißen könnte. Wenn ich einen kenne, der durchblickt, dann brauche ich keine Angst zu haben – mein Auto wird repariert, meine Steuererklärung wird termingerecht fertig. Das geht in Ordnung. Soll ich jetzt so weiter machen: Wenn ich Jesus kenne, wenn mich Jesus kennt, brauche ich überhaupt keine Angst zu haben? Die Folgerung ist logisch einwandfrei. Aber sie stimmt doch nicht. Warum nicht? Schon einmal liegt auf der Hand: Über Jesu Durchblick kann ich gewiss nicht so verfügen, wie über das Können eines Mechanikers oder Steuerberaters. Der stellt mir seine Kenntnisse zur Verfügung und ich bezahle ihn dafür – gut. Aber so einfach habe ich ja Jesu Durchblick gewiss nicht zur Verfügung. Ich weiß zwar, wo ich anfragen muss: In der Bibel, die mir von Jesus erzählt, von seinem Reden und Tun, von seiner Vorgeschichte und Nachgeschichte. Es ist schon gut, wenn sich da einer auskennt. Aber wenn die Angst da ist – weiß ich’s dann auch noch? Die Angst z.B., ob ich mich bei der Diskussion in der nächsten Sitzung behaupten werde – ob das Seminar, das ich angesetzt habe, läuft – ob die Gelegenheit sich bietet, den Streit mit dem Kollegen beizulegen, und ob ich mich dann getraue, auf ihn zu zu gehen. Kenne ich mich dann immer noch aus? Es ist in unserem Text ja in sehr merkwürdigen Worten nicht nur vom guten Hirten und von den Schafen die Rede, sondern von dem Mietling und von dem Wolf. Wenn die Angst kommt – kenne ich mich da noch aus – so, dass ich auf den hören kann, der sich hier den guten Hirten nennt? Oder gerät mir da der „Mietling“ dazwischen – allerlei Auskünfte, die scheinbar viel näher liegen: Redensarten, die mir dann einfallen – statt seiner Stimme: Die Welt ist schlecht und will betrogen sein – und gegen einen Haufen Mist kann einer allein nicht anstinken. Und das sind ja nicht bloß Redensarten; so rechtfertigen wir uns ja, weil wir mit den Anderen mitlaufen – gerade aus der Angst heraus, die uns plagt. Aber was soll das? Damit bin ich doch erst recht den Ängsten ausgeliefert – dem Wolf, vor dem der Mietling flieht!
Wenn mich Jesus kennt, wenn ich Jesus kenne, dann brauche ich keine Angst zu haben! Denn er blickt durch – der Vater kennt ihn, er kennt den Vater. Richtig! Gott sei Dank, dass ich ihn manchmal höre, so dass mir die Angst vergeht, so dass ich einen Schritt hinter ihm her gehen kann. Gott sei Dank, dass ich dabei nicht allein bin, dass andere mit mir gehen, mich mitnehmen, mir sagen, was an der Zeit ist.
2. Das muss nun an einem Punkt noch etwas weiter und genauer ausgeführt werden. Dazu braucht es freilich eine Zwischenbemerkung. Wir sind es als evangelisch-lutherische Christen seit langem gewöhnt, zu unterscheiden: Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen aus Glauben um Christi willen – das richtet an den Einzelnen. Da geht es um die Vergebung meiner Sünden, um meine Gerechtigkeit vor Gott, um mein ewiges Heil. Richtig! Aber ist die Folgerung auch richtig: Das weltliche Leben, die Ordnung des Staates, die Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft – die werden durch andere Gesetze als dies Evangelium bestimmt? Sie haben, wie man das dann theologisch nannte, ihre „Eigengesetzlichkeit“, der wir uns in unserem weltlichen Leben zu fügen haben. Da regiert nicht das Evangelium, sondern die Stimme der Vernunft. Wir leben danach – ich weiß das wohl. Wir sind eingeübt darin, uns an diese Unterscheidung zu halten. Aber die Rede Jesu denkt diese Unterscheidung, denkt dieses Verhalten gerade nicht. Wir hören das nicht mehr so. Aber damals wusste es jeder: Der Hirte, das ist der Herrscher, der Großkönig, der Führer, der befiehlt und der Recht und Ordnung setzt und bewahrt. Anders als politisch konnten sie damals diesen Ausdruck „Hirte“ gar nicht verstehen. Darum ist der Ausspruch Jesu: Ich bin der gute Hirte – eminent politisch. Eigentlich kann das ja auch gar nicht anders sein: Wenn er durchblickt, dann kann das doch nicht bloß ein privater Durchblick für private Ängste sein. So, dass wir uns für unsere gemeinsamen Ängste dann andere Hirten und Führer suchen müssten, je nachdem, was uns dann richtig, vernünftig zu sein scheint. Noch einmal: Wir haben’s so gemacht, wir evangelisch-lutherischen Christen, seit langem schon. Aber wie es geht, wo die Schafe dem Mietling folgen, das sollten wir ja auch zur Genüge erfahren haben. Ist es nicht Zeit, dass wir den Hirten hören?
Ich denke da an unsere politischen Ängste. Reicht unsere Bewaffnung, um gegen alle Eventualitäten gesichert zu sein? Sind uns die vom Warschauer Pakt nicht doch überlegen? Sie kennen die Argumente hin und her. Vielleicht liegt Ihnen dabei aber auch wie mir die seltsamste der Seligpreisungen Jesu im Ohr: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen! Er blickt durch – Gott hat ihn von den Toten auferweckt und damit bestätigt, das Jesus zu Recht von ihm als von seinem Vater sprach. Sollte er hier nicht recht haben? Wenn er aber recht hat, dann ist es höchste Zeit, dass wir damit anfangen, das Evangelium gerade auch als politische Weisheit zu bedenken (trotz Bismarck!).
3. Dazu gehen wir nun noch einen Schritt weiter in unserem Text. Da ist die Rede von den anderen Schafen, die nicht aus diesem Stall sind. Sind damit die Heidenchristen gemeint, im Unterschied zu denen, die aus Israel Jesus nachgefolgt sind? Das ist möglich; wir wären dann die anderen Schafe. Vorhin haben wir es ja so gesungen. Aber vielleicht müssen wir noch viel weiter ausgreifen, um das zu verstehen, was hier gesagt wird: Diese anderen Schafe – Menschen, die er kennt, und die ihn kennen, weil er sie herführen will, und die darum auch seine Stimme hören – das brauchen keine Christen und keine Gläubigen zu sein. Es sind die, die sich ein Ohr bewahrt haben und ein Herz, ein Ohr für die Stimme des Hirten und ein Herz, das sich nicht verwirren lässt, sondern das mutig ist, das zu tun, was recht ist. Ich habe vorhin auf unsere evangelisch-lutherische Tradition hingewiesen, die uns in eine Unterscheidung nicht nur, sondern in eine Trennung von Evangelium und politischer Vernunft eingeübt hat. Aber war das denn die politische Vernunft, der wir dann folgten? Ist das politische Vernunft, die uns einredet, nur ein Gleichgewicht der Abschreckung könne uns den Frieden erhalten? Ist das Vernunft, die überall Milliarden über Milliarden in die Rüstung pumpt – angeblich nur deshalb, um bei der Verhandlung über Rüstungsbegrenzung und Abrüstung eine günstige Verhandlungsposition zu haben? Was ist das für ein Friede, eine Sicherheit, die in der Gewissheit gründet, jedenfalls den großen Krieg, den werde niemand überleben? Wenn Jesus recht hat – z.B. damit: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen – Könnte das nicht vernünftiger sein, umsichtiger, klüger: Das Richtige angesichts der absurden Situation, in der wir leben? Die anderen Schafe des guten Hirten – das wären dann die, die das auch einsehen. Es wären dann die, die sich angesichts unserer „ Wege in der Gefahr“ (C.F. von Weizsäcker) ein mutiges Herz und darum einen klaren Kopf bewahren, um mit uns zu begreifen, wie recht er hat, der sich den guten Hirtennennt, den einzigen, den ich kenne, den, der den Durchblick hat. Gott sei Dank, dass er, Jesus, recht hat. Er gebe uns Vertrauen, das mutige Herz und den klaren Kopf, auf seine Stimme zu hören und ihm zu folgen. Amen.
79,1-6 Gelobt sei Gott
189,1+2 Lobt Gott, den Herrn
197,1-6 Du meine Seele singe
Herr Gott, himmlischer Vater, der du uns durch Jesus Christus deine Güte offenbart hast, in der du deine Schöpfung trägst und zu ihrem Ziel führst, wir bitten dich, lass uns der Stimme des guten Hirten folgen und leite uns zu unserem Heil durch unsern Herrn Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir in der Einheit des Heiligen Geistes lebt und regiert in Ewigkeit. Amen.
Herr, unser Gott, wir mühen uns, klar zu sehen, aber wir finden uns nicht zurecht. Lass uns die Stimme Jesu hören, so deutlich, dass wir wissen, wohin unser Weg geht. Wir bitten dich für die ganze Christenheit. Gib uns ein offenes Herz für alle, die mit uns zusammen gehören, auch wo sie anders sind als wir, anders denken und reden und beten und handeln. Wir bitten dich um den Frieden. Dort, wo Hass und Angst regieren, lass deine Güte einkehren. Gib uns allen ein mutiges Herz und eine klare Einsicht, damit wir das Richtige, das an der Zeit ist, anpacken. Amen.