Klinikgottesdienst am 15.9.1957

126,1-4               Herr Jesu Christ

254,1-5

254,6.7

Lk 10,23-37

 

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist wohl eines der bekanntesten Stücke des Evangeliums, das wir alle schon einmal gehört haben, und über das wir uns sicher auch schon alle einmal unsere Gedanken gemacht haben. Aber ich meine, es sei nicht überflüssig, es darum doch auch heute wieder einmal ganz neu zu hören – darauf zu hören, was Jesus und mit diesem Gleichnis einschärfen will.

Schauen wir einmal zunächst auf den Zusammenhang, in dem Jesus dieses Gleichnis erzählt: Da ist ein Schriftgelehrter, ein kluger uns sicher in seiner Weise frommer Mann, der mit Jesus religiös diskutieren möchte. Solche eine religiöse Diskussion kann eine sehr interessante Sache sein. Das habt ihr vielleicht auch schon gemerkt. Ich jedenfalls weiß das sehr genau, denn ich bin ja von Berufs wegen dazu da, immer wieder solche Diskussionen zu führen, in denen es darum geht, Klarheit zu gewinnen über die letzten, entscheidenden Fragen unseres Lebens. Aber gerade solches Fragen hat seine große Gefahr in sich – die Gefahr nämlich, dass wir über allem dem, was wir wissen, nicht das tun, was wir wissen. Dass wir über allem unseren, sicher gut gemeinten und sicher aus einem frommen Herzen kommenden Fragen vergessen, dass wir doch selber mit unserem ganzen Leben die Antwort zu geben haben, auf die es nun wirklich ankommt. Ich wenigstens finde immer wieder, wenn ich dieses Gleichnis lese, dass es doch gerade für uns Pfarrer eigentlich eine recht peinliche Wahrheit enthält: Denn sowohl der, der den Herrn Jesus in eine kluge Diskussion verwickeln will, um ihn irgendwo aufs Glatteis locken zu können, wie auch der, der da als erster an dem unter die Räuber gefallenen Menschen vorbei geht – beide sind doch Vertreter unseres Standes. Und es ist nur ein kleiner Trost, dass der Andere, der dann vorbei geht, der Levit, im Tempel von Jerusalem ähnliches zu tun hatte, wie bei uns die Mesner, un d dass es also nicht nur wir Theologen und Pfarrer allein sind, die in dieser Geschichte des Evangeliums so schlecht weg kommen. Das ist das Erste, was Jesus mit unübersehbarer Deutlichkeit in seinem Gleichnis zeigt: Dass wir uns selber nur betrügen, wenn wir uns in frommen Diskussionen ereifern, als ob wir nicht ganz genau wüssten, was wir zu tun haben. Als ob wir nicht ganz genau wüssten, dass unserem Glauben mit frommen Worten und mit religiösen Fragen gar nicht gedient ist, sondern dass es ganz allein darauf ankommt, wie wir diesen Glauben leben.

Aber nun müssen wir sehr vorsichtig sein, damit wir hier nicht gleich wieder uns selber etwas vormachen. Wir sind natürlich grundsätzlich davon überzeugt, dass es auf das rechte Tun ankommt. Wir brauchen das gar nicht lange zu erörtern. Es ist uns von vorneherein klar, und wir suchen gerne nach solchem Tun. Nur suchen wir nach solchem Tun häufig am falschen Platz. Nicht wahr, wenn ihr diese Geschichte hört  und nun fragt, in welcher Person des Gleichnisses ihr euch selber wieder erkennen wollt: Seid ihr, sind wir nicht alle immer wieder in der Lage, dass wir meinen, wir selber seien der arme Mensch, der unter die Räuber gefallen ist. Dass wir meinen: Ja, ich bin auch so einer, der sich nicht mehr selber helfen kann und der so dringend darauf wartet, dass ihn einer aufliest, dass ihm einer hilft, dass sich einer über seiner Not erbarmt. Ich sage, wir sind alle immer wieder versucht, dass wir uns diesen Platz im  Gleichnis zuweisen, den Platz dessen, der der Hilfe bedarf und auf seinen Samariter wartet, der sich über ihn erbarmt. Und wir haben damit nicht einmal so ganz Unrecht, wenn wir das tun. Wir haben alle irgendwo die Hilfe nötig, nicht nur wenn wir krank sind. Wir sind alle irgendwo angeschlagen, am Leib oder an der Seele oder am Geist. Wir können alle an irgendeinem Punkt unseres Lebens aus eigener Kraft nicht mehr weiter, ob wir uns das nun eingestehen wollen oder nicht. Ich glaube es keinem, der sich selber stark macht und so tut, dass er ganz allein und aus eigener Kraft mit seinem Leben fertig werden könnte. Wir haben also schon recht, wenn wir uns mit dem unter die Räuber gefallenen Menschen des Gleichnisses Jesu identifizieren. Wenn wir darauf warten, dass einer kommt, um uns zu helfen. Wenn wir gerade von dem, der den Christennamen trägt, der getauft ist, der in die Kirche geht, solche Liebe und Barmherzigkeit erwarten.

Aber haben wir denn wirklich ein Recht dazu, solche Liebe zu erwarten? Wir haben doch eigentlich nur dann ein Recht, wenn wir wirklich bereit sind, eine solche Liebe auch wirklich zu geben. Seht unser Herr Jesus hat sein Gleichnis genau so erzählt, dass wir uns in gar keiner Weise heraus reden können. Dass  wir in gar keiner Weise so tun können, als ob uns das, was er erzählt, nicht selber betreffen könnte. Als ob es zuerst einmal die anderen und nicht uns anginge. Der Schriftgelehrte, der fragt: Wer ist mein Nächster? Der möchte also wissen, bei welchen Menschen und in welchen bestimmten Fällen er zur Hilfe verpflichtet ist. Und wir selber sind doch immer versucht, ganz ähnlich zu fragen: Wer ist für mich der Nächste, der, der mir helfen soll, der, der mir zur Hilfe verpflichtet ist. Ich meine, diese Frage sei darum so ähnlich, weil es dabei in beiden Fällen um das liebe Ich geht. Darum, was ich zu tun habe. Darum, was mit mir zu geschehen hat. Und da sagt nun der Herr Jesus mit unübersehbarer Klarheit und Deutlichkeit: Diese Frage ist doch ganz falsch gestellt. Nicht nach dem sollt ihr fragen, was euch angeht, sondern ihr sollt nach dem fragen, was der Nächste nötig hat. Schaut euch um, dann werdet ihr gleich den wahrnehmen können, der gerade eurer Hilfe bedarf. Nicht dann hören wir richtig auf das, was Jesus uns zu sagen hat, wenn wir auf uns selber und auf unsere Not und Bedürftigkeit blicken und darauf warten, dass zu uns ein barmherziger Samariter kommt, um uns zu helfen. Dass wir sagen: Ja, ich bin doch so schlimm und elend dran, dass ich nicht daran denken kann, mich auch noch um andere zu kümmern. Ich habe genug mit mir selber zu tun. Sondern denken wir daran: Es ist immer noch einer da, dem wir helfen können, nach  dem wir sehen können, der uns braucht.

Seht, wenn wir so das Wort Jesu ernst nehmen, dann wird es so etwas wie eine Kettenreaktion geben. Wenn  wir einmal selber angefangen haben, dann werden wir merken, Wie Jesu Kraft uns zu Hilfe kommt. Denn wenn wir so die Last eines anderen Menschen mit auf unser Herz und Gewissen nehmen, dann ist es gar nicht so, dass wir nun eine doppelte Last zu tragen hätten: Unsere eigene Last und die des Anderen noch dazu. Vielmehr – wir werden merken, wie unsere Last dadurch so viel leichter wird. Und wir werden dazuhin merken, dass wir nicht allein sind. Unser Herr und Heiland Jesus ist mit uns. Und er ist nicht bloß unsichtbar mit uns. Nein! Er hat für jeden von uns einen barmherzigen Samariter bereit, einen Menschen, der nun wieder uns hilft. Der nun wieder unsere Last mitträgt. Der nun wieder uns das abnimmt, was wir allein nicht zu verkraften vermögen.

Gebe Gott, dass wir so hinein genommen werden in diesen Kreis der Barmherzigkeit und gegenseitigen Hilfe, durch den er seinen Sohn in uns Gestalt werden lassen möchte. Amen.