26. August 1962, (10 n. Trinitatis)          Wolfenhausen/Nellingsheim

 

349,1-5 Morgenglanz der Ewigkeit        (178)

390, 1-5 Wach auf, wach auf                  (238)

216,6 Wach auf, du Geist             (54)

216,9Wach auf, du Geist              (54)

 

Josua 24, 14 -24                  Römer 9, 1-5; 10, 1-4

 

Liebe Gemeinde!

 

Wir gestehen es dem Apostel Paulus natürlich zu, dass er sich um die Juden grämte, um seine Landsleute, die er in der unbegreiflichen Ablehnung des Evangeliums befangen sah. Das ist ja eine sehr selbstverständliche Sache: Wer einen nahe steht, der geht einen an.

Der geht einen ganz selbstverständlich mehr an, als der, welcher einen ferne ist, mit dem einen nicht oder doch kaum etwas verbindet. So, wie uns die Berliner, die sich so wacker ihrer Haut wehren gegenüber der Aggressivität des Ostens und der Trägheit des Westens, natürlich näher, viel viel näher angehen als beispielsweise die Laoten und Vietnamesen, die im hinterindischen Dschungel ihre Kämpfe auszutragen haben. Wer mit uns verbunden ist, der geht uns etwas an!

So gestehen wir es dem Apostel Paulus durchaus zu, dass ihn die Juden, mit welche er durch Abstammung und Erziehung und Religion verbunden war, durchaus etwas angingen und glauben es ihm, auch ohne die großen Beteuerungen, mit denen er seine Worte einleitet, dass er große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in seinem Herzen hatte, wegen dieser Juden, weil er unter denen so wenig Glauben fand mit seiner Christuspredigt.

 

Wir gestehen es dem Apostel Paulus zu, dass ihn die Juden etwas angingen, das sie ihn sogar sehr nahe angingen, denn er gehörte ja zu ihnen, und sie gehörten zu ihm. Doch nun werden wir kaum dem Schluss folgen können, dass die Juden auch uns etwas angingen, weil sie dem Apostel Paulus nahe standen. Wäre es darum nicht gescheiter, diese Worte des Paulus einfach auf die Seite zu schieben; sie vielleicht als eine persönliche Erinnerung zu nehmen, als einen Einblick in das private Seelenleben des Paulus. Aber uns dann anderem zuzuwenden, was uns tatsächlich etwas angeht, weil es uns viel näher liegt. Liebe Freunde! Es kann schon sein, dass uns die Juden gleichgültig sind. Dass wir sagen: Was gehen die uns an? Und ich weiß genau, dass man solches Angehen nicht machen kann, dass man das nicht einfach hervorrufen kann! Freilich: Eigentlich sollten sie ja uns schon etwas angehen, die Juden.

Denn wir sind ihnen zwar nicht nahe, wie Paulus ihnen nahe war. Aber wir sind ihnen nahe durch unsere Schuld!

Gewiss – auch das ist eine eigentümlichen Sache mit dieser Schuld! Wir haben vielleicht eine der rauchenden Synagogen gesehen, die 1938 angezündet wurde. Wir haben Menschen mit dem gelben Davidstern gesehen, die zu Anfang des Krieges scheu und verschüchtert durch die Straßen schlichen, haben vielleicht auch beobachtet, wie solche Menschen angepöbelt wurden wegen dieses Zeichens. Vielleicht haben wir auch das noch vermerkt, dass der eine oder andere plötzlich nicht mehr da war. Haben wir mehr bemerkt? Haben wir mehr gewusst?

 

Und doch werden wir die Last dieser 6 Millionen Juden, die umgebracht wurden, zu unseren Lebzeiten, von unseren deutschen Landsleuten umgebracht wurden, nicht so einfach von uns

abschieben können. Werden gerade darum, wegen dieser 6 Millionen Ermordeter nicht einfach sagen können: Sie gehen uns nichts an! Die, welche einmal unter uns wohnten, die sind wir zum allergrößten Teil losgeworden – und wenn ich es einmal mit einem Viehjuden zu tun kriegen sollte, werde ich mich hüten, mich von ihm übers Ohr hauen zu lassen!

Sie gehen uns an! Und wenn wir es anders, wenn wir es von unserem Glauben her nicht begreifen wollten, von dieser Schuld her sollten wir es erfassen: Sie gehen uns an, die Juden.

Und wenn wir auch nur dazu kämen, das Bild, welches jene Propaganda des Stürmers und ähnlicher Blätter in unseren Köpfen hat entstehen lassen, zurecht zu rücken.

Dazu könnte uns helfen, wenn wir uns ein bisschen mehr um das kümmerten, was in dem Staat Israel, der 1949 in Palästina ausgerufen wurde, geschieht. Man hat uns ja gelehrt, die Juden seien Händler, seien Parasiten, die von dem leben, was andere schaffen, sie seinen feige und hinterhältig und derlei Dinge mehr. Wohl! Sehen wir einmal zu, was dort geschieht! Da gibt es Begeisterung, da gibt es Idealismus, da gibt es Zusammenhalt, wie wir das alle miteinander recht gut brauchen könnten!

Doch es genügt nun gerade nicht, dass wir einfach von dem ausgehen, was vor Augen liegt. Von diesem besonderen, was die Juden auszeichnet, was den Hass auf sie gezogen hat und was jetzt auf seine Weise unsere Bewunderung verdient, wo wir das recht sehen lernen!

Es genügt nicht, dass wir uns einfach bei dem aufhalten, was vor Augen liegt. Wir werden vielmehr fragen müssen, woher es denn kommt, dieses Besondere der Juden.

Paulus sagt: „Ich gebe ihnen das Zeugnis, dass sie eifern um Gott, aber mit Unverstand.“ Also: Aus dem Glauben kommt es, dieses Besondere, diese besondere Kraft im Leiden wie die besondere Kraft im Tun! Aus dem Glauben kommt es – aus dem Eifer für Gott!

Liebe Freunde! Wenn wir das recht verstehen würden, dann würden wir viel verstehen, würden viel verstehen gerade von uns selber, gerade von unserem Glauben und von seiner unverwechselbaren Eigenart! Sie eifern um Gott!

Was heißt das? Sie wollen den unsichtbaren Gott in ihrem Tun sichtbar werden lassen! Sie wollen es mit ihrem Gehorsam Gottes Geboten gegenüber zeigen, dass Gott recht hat. Eifer für Gott – so sagt es Paulus. Gehorsam, so könnten wir es sagen: Das ist das Besondere dieses jüdischen Volkes, uns wir haben gar keinen Grund, das nun einfach so geschwinde als Pharisäismus und Gesetzlichkeit abzutun.

Eifer für Gott! Gehorsam! Das heißt: Sie wollen den unsichtbaren Gott in ihrem Tun sichtbar machen. Sie wollen, nicht mit Worten, sondern mit der Kraft ihres Glaubens das Unrecht zu erleiden und das Recht zu tun, das beweisen, dass ihr Gott, der Gott Abrahams uns Isaaks und Jakobs der rechte Gott ist. Sie wollen es beweisen, dass nur der Weg ihres Gehorsams der Weg zu Gott ist, und dass erst dann die Welt ihre Ruhe und ihr Glück finden wird, wenn alle Völker zu Israel kommen werden, und dort anfragen werden, was Recht ist und was sie zu tun haben, wie das einst der Prophet Jesaja sagte: „Von Zion wird das Gesetz ausgehen, und des Herrn Wort von Jerusalem.“

 

Eifer für Gott: Dass der durch sie recht behalte. Dass der an ihnen verherrlicht werde. Dass der durch sie sichtbar werde. Das ist das besondere, das ist die Gewalt dieses jüdischen Volkes und seines Glaubens. Und wenn es auch viele dabei hat, die nicht glauben – nicht anders als bei uns, sie werden durch die Gewalt dieses Glaubens mitgerissen, hineingerissen in das Leiden Israels, und hineingerissen in sein Tun. Eifer für Gott! Doch Paulus setzt dazu: Mit Unverstand. „Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die Gottes ist, und trachten, ihre eigenen Gerechtigkeit aufzurichten, und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan!“

Eifer mit Unverstand: So meint es Paulus. Denn in diesem ihrem Eifer, es Gott recht zu machen, in diesem ihren Eifer, Gott sichtbar zu machen in dieser Welt, das zu zeigen, dass er, der Gott Israels, der rechte Gott ist, weil nur er, der Gott Israels, ein gerechtes, ein gutes Volk hat auf dieser Erde - damit verfehlen sie in Wirklichkeit Gottes Wirken! Indem sie sich mühen, selber Gerechte zu sein, indem sie um den Gehorsam kämpfen, indem sie Gottes unsichtbare Herrlichkeit in ihrem gerechten Tun sichtbar machen wollen – übersehen sie Gottes wahre Gerechtigkeit.

Übersehen sie, dass Gott seine Gerechtigkeit ganz anders sichtbar gemacht hat, sie sichtbar gemacht hat in Jesu Kreuz! Das ist jene eigene Gerechtigkeit, von der Paulus redet, die Gerechtigkeit, die nicht zum Ziel kommen kann, dass sie es selber sein wollen, die Recht haben für Gott und an Gottes Statt! Sie selber und nicht Jesus. Eifer für Gott – aber mit Unverstand. So haben wir Israel zu verstehen. So geht es uns etwas an, gerade uns Christen.

 

Drei Folgerungen sollen wir ziehen aus der bemerkenswerten und seltsamen Existenz dieses Volkes: Einmal, dass wir uns vor seinem Unverstand hüten, der oft genug in uns sitzt, bloß ohne Eifer. Zum anderen, dass wir desto mehr uns ans Wort hängen, das uns Gottes Gerechtigkeit in Christus vorhält. Und zum Dritten, dass wir Israel beistehen, Volk unter Völkern zu werden, damit es zu Christus finde.

Amen.