Totensonntag, 23. November
1958 Wolfenhausen/Nellingsheim
Chor
121, 1-3 Wachet auf, ruft uns die Stimme
Chor
316, 1.2.7 Christus, der ist mein Leben
318,4 Valet will ich dir geben
Matth 13, 24-30
Phil 1, 19-23
Liebe Gemeinde!
Nicht umsonst feiern wir den
Totensonntag im November in einer Jahreszeit, wo draußen in der Natur alles
Leben am Erlöschen zu sein scheint, wo die Blätter von den Bäumen fallen, wo
wir die Kraft der Sonne kaum mehr verspüren, und Tag für Tag der Himmel grau
verhangen ist. Ja – ist das nicht die richtige Zeit, um der Toten und des Todes
zu gedenken? Spiegelt nicht die traurige Stimmung draußen in der Natur auch die
Stimmung wieder, mit der unser Herz an diesem Tage erfüllt ist?
Doch seht – dabei darf es
nun gerade nicht bleiben, dass wir uns solcher Stimmung überlassen! Dabei darf
es nicht bleiben, dass wir der Trauer allein Raum geben in unseren Herzen, wenn
wir als christliche Gemeinde richtig Totensonntag feiern wollen. Und dazu kann
uns gerade dies so ganz persönliche Bekenntnis des Apostel Paulus helfen, das
wir heute miteinander betrachten wollen. Nicht umsonst schließt der Apostel
diesen Abschnitt seines Briefes an die Philipper, in welchem er vom Tode, von
der Möglichkeit seines Sterbens redet, mit einer Erwähnung der Freude. „Und in guter
Zuversicht weiß ich, das ich bleiben und bei euch allen sein werde, euch zur
Förderung und Freude des Glaubens.“
Nun mögt ihr mir freilich
einwenden, dass das ja auch ganz einleuchtend sei, dass der Apostel Paulus hier
von der Freude redet. Denn er kündigt ja seinen Gemeindegliedern, die in großer Sorge um sein Leben gewesen sind,
gerade dies an, dass er guter Zuversicht sei, eben gerade nicht zu sterben,
sondern in diesem Leben zu bleiben. Und das ist doch ganz gewiss Grund genug zur
Freude. Das ist an sich ganz richtig. Doch – wenn wir wirklich begreifen
wollen, was uns der Apostel hier sagt, müssen wir doch noch ein wenig genauer
hinhören auf diese Worte: Die Freude der Philippischen Christen, dass sie auf
ein bald bevorstehendes Wiedersehen mit ihrem geliebten Apostel Paulus rechnen
dürfen – diese Freude ist ja damit erkauft, dass der Apostel Paulus selber auf
seine Freude verzichtet, auf das verzichtet, was er eigentlich gerne wollte.
Und das ist gerade nicht das am Leben bleiben, sondern das ist das Sterben. Er
drückt das ja deutlich aus, was sein eigentlicher Wunsch und Wille ist: „Ich
habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein, was auch viel besser wäre;
aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen.“ Denn seht: Der
Satz ist ja der Mittelpunkt, um den alle Gedanken des Apostel kreisen, der
Satz, der in den bekannten Sterbelied wieder aufgenommen ist. „Christus ist
mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.“
Also müssen wir das als
Grundgedanken festhalten: Was für die einen Grund zur Freude ist, dies, dass
ihnen der Apostel erhalten bleiben wird, ist für ihn eher ein Grund der Trauer,
muss er doch dadurch seinen sehnlichsten Wunsch, abzuscheiden und bei Christus
zu sein, diesen sehnlichsten Wunsch, den ewigen Gewinn einzuheimsen, der für
ihn im Sterben liegt, zurück stellen. Darauf kommt es nun für uns zunächst
einmal an, dass wir diesen Wunsch begreifen. Denn so wird sich für uns der
Trost dieser wunderbaren Worte des Apostels erst recht erschließen: „Christus
ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.“
Freilich, so einfach wird
solches Verstehen nicht sein. Denn -
widerspricht es nicht der menschlichen Natur ganz und gar, das Sterben als
einen Gewinn zu betrachten? Wie sehr muss doch einer verzweifelt sein, ehe er
Hand an sich selber legt; wie sehr muss er verwirrt sein in seinem Denken, wie
sehr muss er bedrängt sein von leiblicher oder seelischer Not, ehe er sich dazu
entschließt, sein Leben wegzuwerfen. Wahrhaftig, die Liebe zum Leben, die ist
tief verankert in der menschlichen Natur, und es muss schon eine gewaltige
Kraft gewesen sein, die dem Apostel diese natürliche Liebe zum Leben aus dem
Herzen riss, die ihn zu jenen kühnen Worten bewegte: „Christus ist mein
Leben, und Sterben ist mein Gewinn.“ Und seht, diese Kraft ist ja in
eben diesen Worten genannt: Es ist die Kraft Christi, die den Apostel bewegt.
Nun, damit, dass wir den Namen Christi nennen, ist natürlich noch nicht viel
gesagt. Wir müssen das schon noch näher erläutern und noch tiefer begreifen, was
Paulus meint mit diesen Worten; Christus ist mein Leben!
Da drückt sich die
Erkenntnis aus, dass unser eigenes, unser menschliches Leben gar keinen Wert
hat, dass es mit all seinen Regungen verdorben ist durch die Sünde, und dass es
darum unter dem unerbittlichen Verdammungsurteil steht von ersten bis zum
letzten Atemzug – unter dem Verdammungsurteil: Der Tod ist der Sünde Sold.
Diese Erkenntnis bewegt den
Apostel, wenn er Christus als sein Leben bezeichnet. Wenn er uns darauf
hinweist, dass nur dort, dass nur in Christus für uns alle Leben, ewiges,
wahres Leben bereit ist. Freilich, dieses Wissen allein genügt noch nicht.
Vielmehr, nun gilt es, dieses ewige Leben, das uns in Christus bereitet ist,
auch zu ergreifen. Und wieder zeigt uns der Apostel in seinem so über die Maßen
herrlichen Wort, wie das geschieht, wie wir dieses ewige Leben, das uns in
Chrisus bereitet ist, ergreifen können: „Sterben ist mein Gewinn.“ So
ist dies ewige Leben in Christus zu ergreifen, dass unser irdisches Leben
seinem Leben gleich wird. Seht – nicht umsonst lebt Christi Bild in uns als das
Bild des Gekreuzigten. Nicht umsonst steht er uns in unseren Gotteshäusern vor
Augen als der, der am Kreuz hängt. Als der, der sein Leben hingibt. Und nicht
umsonst ist das Wort Jesu, das am häufigsten in den Evangelien erwähnt wird,
dieses: „Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer es aber
verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“ Das meint der Apostel, wenn
er sagt:“ Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.“
Er weiß: Nur so kann er den
Gewinn des ewigen Lebens mit Christus davontragen, dass er dies irdische Leben
dahingibt. Und vielleicht verstehen wir es nun besser, warum er solche große
Lust hat, abzuscheiden und bei Chrisus zu sein, und warum er das als das
Bessere bezeichnet.
Aber seht: Gerade wenn wir
das begriffen haben, dann werden wir verstehen, warum er nun doch dieser
Sehnsucht Einhalt gebietet. Warum es ihn gerade verwehrt ist, sein Leben
wegzuwerfen. Warum es ihn verwehrt ist, seiner Todessehnsucht Raum zu geben.
Wieder ist es Christus, der vor ihm steht. Der Herr, der sein Leben hingibt.
Denken wir daran, wie er bei der Einsetzung des heiligen Abendmahles von der
Hingabe seines Lebens redet. „ Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der
für euch geben wird. Nehmet hin und trinket, das ist mein Blut, das für euch
und für viele vergossen wird zum Vergebung der Sünden. „ Seht –
dieses „für euch“ das ist es gewesen, das den Apostel zurückgerissen hat
aus seiner Sehnsucht nach dem Tode. Denn wenn er sterben wollte: Wollte er
nicht für sich selber sterben? Wollte er nicht um seiner eigenen Seeligkeit
willen möglichst bald aus diesem Leben scheiden, möglichst bald bei Christus
sein? Und hat es doch sogleich erkannt: Gerade um Christi willen, gerade darum,
um ihm nachzufolgen, durfte er den Todesverlangen keinen Raum in seinem Herzen
geben. Vielmehr: Sollte er dieses „für euch’“ – das er bei dem Herrn gelernt
hatte, wahrmachen, so hieß das für ihn eben, am Leben zu bleiben. „ Es ist
nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen.“
Kennen wir das nicht auch,
liebe Freunde? Wissen wir das nicht, wie es ist, wenn uns die Sehnsucht nach
dem Tode ergreift? Wenn wir müde sind, müde unserer Arbeit, müde der Menschen,
mit denen wir umgehen müssen, müde der Last dieses Lebens? Wenn wir unseres
Leibes müde sind und der Schmerzen, die uns dieser Leib bereitet? Wohl jeder
von uns kennt diese Müdigkeit, kennt Stunden, wo ihm das angekommen ist, dass
er sagte, wie der Apostel: Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christus zu
sein, was auch viel besser wäre.“
Gerade da muss uns der
Apostel Paulus vor Augen stehen, der diese Sehnsucht sehr wohl gekannt hat, und
der ihr den ergreifenden Ausdruck gegeben hat in seinem Worte: „Christus ist
mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.“
Und der es doch zugleich
ganz klar erfasst hat, dass das nun eben nicht heißen darf, dass ich mir selber
mein Sterben erwählen und herbeisehnen soll, sondern das vielmehr das Sterben
Christi – dieses „für euch“ in meinem Leben wirksam werden soll. Nicht das
sollen wir erwählen, so zeigt es der Apostel, was für uns das Beste wäre,
sondern dem soll unser Wunsch, unsere Hoffnung, unser Gebet gelten, was für die
das Beste ist, die uns brauchen. Nicht auf uns sollen wir blicken, wenn uns der
Gedanke an den Tod vor Augen steht, sondern auf die Menschen, die uns zur Seite
gestellt sind und die unser bedürfen. Und da wird es dann wahrscheinlich auch
so heißen, wie es bei dem Apostel geheißen hat: „ Ich habe Lust,
abzuscheiden und bei Christo zu sein, was auch viel besser wäre; aber es ist
nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen.“
Doch nun haben wir noch
einen letzten Gedanken zu fassen, der uns wieder zurücklenken soll zum Gedenken
an unsere Toten, dem der heutige Totensonntag in besonderer Weise gewidmet ist.
Sollte nicht auch dieses Gedenken beherrscht sein davon, dass wir nicht
wünschen, was für uns besser ist, sondern was für sie das Beste ist? Gewiss, es
wäre besser für uns, wenn sie noch bei uns wären. Es wäre besser, wenn der
Gatte, die Mutter, der Sohn uns noch zur Seite stünden, wenn wir ihre Liebe
nicht vermissen müssten. Es wäre besser für uns, wenn sie noch bei uns wären,
und wir nicht voll Schmerz und Trauer die Lücke in unserem Leben verspüren
müssten, die ihr Weggang gerissen hat. Gewiss – es wäre besser für uns! Aber:
Wäre es auch für sie, für die Abgeschiedenen, besser? Wäre es für sie besser,
sie müssten noch auf den Gewinn warten, der im Sterben liegt? Wäre es für sie
besser, wenn sie noch nicht bei Christus wären? Seht: hieße nicht gerade das,
dieser unserer Toten recht gedenken, das wir des Gewinnes gedenken, den diese
Toten durch ihr Sterben davongetragen haben? Und müsste dann nicht durch
unseren Schmerz und unsere Trauer etwas durchscheinen von jener unvergänglichen
Freude, welche die beseelt, die auf ewig mit ihrem Herrn vereint sind.
„Denn unser keiner lebt
sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn,
sterben wir, so sterben wir dem Herrn; darum wir leben oder sterben, so sind
wir des Herrn; denn dazu ist Chrisus auch gestorben und auferstanden und wieder
lebendig geworden, dass er über Tote und Lebendige Herr sei.“ Amen