Phil 2, 1-11 11/12.September 1954 Tübingen
47, 1-5 Morgenglanz der Ewigkeit
417, 1-4 Lasset uns mit Jesu ziehen
299, 3 Allein zu dir
299,4
Lukas 10, 23-37
Phil 2, 1-11
Liebe Gemeinde!
Es sind sehr anspruchsvolle
Worte, die der Apostel Paulus hier zu uns redet. Es sind sehr anspruchsvolle
Worte, die ich euch heute auszulegen habe. Dieses „anspruchsvoll“ sehe ich in
doppelter Weise. Einmal: Diese Worte stellen einen großen Anspruch an unsere
Kraft des Verstehens. Es ist nicht ganz einfach, das wirklich herauszubekommen,
was der Apostel mit ihnen gemeint hat. Doch wenn wir uns gegenseitig bemühen,
ich, der ich auslege, und ihr, die ihr meinen Gedanken folgen sollt, so könnte
uns das doch gelingen. Aber da ist noch ein anderer Anspruch dieser Worte, dem
wir nicht so leicht gerecht werden können.
Richtig betrachtet,
beanspruchen sie ja gar nicht allein unseren Verstand, unser Verstehenwollen
und –können, sondern uns selber ganz und gar, mit Haut und Haaren, mit Leib und
Seele, mit Geist und Willen. Seht, liebe Freunde – einmal eine halbe Stunde
einer Predigt zuhören, das fällt uns nicht schwer. Und eigentlich ist es doch
sogar ein Vergnügen, etwas zu erkennen und zu begreifen, was einem bisher
vielleicht fremd gewesen ist. Aber das Verstehen und Begreifen, das der Apostel
haben will, das meint ja mehr. Da geht es nicht allein darum, dass uns in
unserem Verstand etwas klar wird – sondern da steht ja sofort der Befehl im
Hintergrund: Hast du begriffen? Gut, dann richte dich auch danach. Darum sind
unsere Worte so anspruchsvoll, ganz wörtlich genommen so voller Anspruch, weil
sie den Anspruch erhaben, Lebensregel, Richtschnur für unser Handeln zu sein.
Besteht dieser Anspruch zu Recht? Liebe Freunde, darauf muss jeder von uns ganz
persönlich sein Ja oder Nein sagen zu dem, was uns hier vorgelegt wird. Ich
kann nicht mehr tun, als euch den Anspruch in diesen Worten verdeutlichen, als
euch zeigen, wie diese Worte jeden von uns wirklich beanspruchen wollen.
1)
Zuerst gilt es jetzt, die
Frage zu beantworten: Sind wir denn überhaupt gemeint? Geht das denn uns selber
wirklich etwas an, was hier der Apostel schreibt? Oder brauchen wir uns darum
nicht zu kümmern? Das ist keine Frage, deren Antwort schon von vornherein
gegeben ist. Denn Paulus nennt da einige höchst gewichtige Voraussetzungen, die
bei den Empfängern seines Briefes, bei der Christengemeinde in Philippi,
gegeben sind. „Ist nun bei euch Ermahnung in Christo, ist Trost der Liebe, ist
Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit – so erfüllet
meine Freude…“ mit diesen Voraussetzungen kann der Apostel dort rechnen, wo sie
seinen Brief zum ersten Male lesen werden. Er weiß, da sind Christen
beieinander, die sich umeinander kümmern. Die wissen, dass sie aufeinander
angewiesen sind; die das nicht nur wissen, sondern es tatsächlich
verwirklichen. Da ist also eine christliche Gemeinde, die diesen Namen mit
Recht trägt. Und genauso dieser christlichen Gemeinde gilt, was der Apostel
schreibt. An sie ist der Anspruch seiner Worte gerichtet. Sind wir eine solche
Gemeinde? Wir werden es ja wohl nicht schon dadurch, dass ich mich zu Beginn
meiner Predigt mit „Liebe Gemeinde“ anrede“. Freilich! Eigentlich sollte das
schon bei uns da sein, was der Apostel da von seiner Gemeinde in Philippi sagt.
Denn wir wollen doch alle Christen sein. Wir sind getauft, sind konfirmiert.
Wissen auch ganz genau, dass das keine reine Formsache ist, sondern, dass es
sehr ernsthafte Verpflichtungen mit sich bringt.
Zum mindesten das sollte uns
doch klar sein, dass ein Christ dem anderen nicht gleichgültig sein darf. Dass
überall da, wo Christen zusammengeführt werden, in jeder Lage, das da sein
sollte, was die Bibel eine Gemeinde heißt. Dass zu finden sein sollte, was der
Apostel von seinen Philippern schreibt: Ermahnung in Christo, Trost der Liebe,
Gemeinschaft des Geistes, herzliche Liebe und Barmherzigkeit. – Ja, mehr noch:
Ist uns in der christlichen Gemeinde wirklich dies alles begegnet, von dem da
die Rede ist? Liebe Freunde! Es hat keinen Sinn, wenn wir jetzt krampfhaft so
tun, als ob das bei uns stimmte. So tun, als ob unsere evangelische Kirche voll brüderlicher Ermahnung, Liebe,
Trost, gegenseitiger Barmherzigkeit wäre. Als ob es da nicht sehr menschlich
zuginge. Als ob da nicht sehr viel Eigensinn, sehr viel Egoismus, sehr viel
Streit und Neid und Ehrgeiz zu Hause wäre. Es hat keinen Sinn, wenn wir das
verheimlichen wollen. Geben wir es ruhig ganz ehrlich zu. Aber was dann? Sollen
wir uns jetzt zuerst bemühen eine rechte christliche Gemeinde zu werden. Sollen
wir uns jetzt erst bemühen um die Brüderliche Liebe und Barmherzigkeit, und
dann wieder zusammenkommen, um zu hören, was der Apostel Paulus einer solchen
Gemeinde zu sagen weiß? Um uns dann erst unter dem Anspruch seiner Worte zu
stellen: Das wäre eine Möglichkeit. Aber ich meine fast, dass ..., sondern
schmählich in unseren Bemühungen stecken bleiben. Es ist unsere Schuld, die
Schuld der Kirche und die Schuld jedes einzelnen Christen, dass wir so wenig
von dem haben, was der Apostel Paulus in seiner Gemeinde findet. Doch wir
kommen keinen Schritt weiter, liebe Freunde, wenn wir nun auf uns selber
schauen und an uns selber herum doktern. Nein! Viel besser blicken wir weg von
uns, blicken darauf, wie denn Paulus eigentlich den Anspruch seiner Worte auf unser
Leben begründet.
2)
Ja, wodurch ist dieser
Anspruch eigentlich begründet? Paulus berichtet uns da die Geschichte eines
Menschen. Eines wirklichen und wahrhaftigen Menschen, der seinen Namen hat, wie
du und ich, der geboren wurde, wie wir alle, der dann seine bestimmte Zeit
gelebt hat, und der schließlich gestorben ist. Freilich, es war ein etwas
ungewöhnliches Leben, und besonders ungewöhnlich war, sein Tod, denn man hat
diesen Menschen schließlich als Schwerverbrecher aufgehängt, hat ihn ans Kreuz
geschlagen. Aber auch das kommt ja schließlich bedauerlicherweise immer wieder
vor, wenn wir auch heutzutage andere Methoden haben, die Todesstrafe zu
vollziehen. Doch das ist noch nicht alles. Denn nun behauptet Paulus von diesen
Menschen Jesus von Nazareth das Ungeheuerliche, dass er Gott ist. Dass wir in
ihm das Wesen Gottes erkennen können. Dass er gleichsam die Norm des göttlichen
Lebens gebracht hat, nach der wir uns auszurichten haben, wenn wir in unserem
Leben dem Willen Gottes entsprechen wollen. „Ein jeglicher sei gesinnt, wie
Jesus Christus auch war.“ Liebe Freunde! Nicht das will uns so schwer eingehen,
dass Gott unserem Leben eine Norm setzt. Dass er uns seinen Willen zeigt. Dass
er uns sein Wesen kundtut. Aber dass es gerade Jesus der Gekreuzigte ist, durch
den das geschieht. Denn wir haben doch alle unsere sehr deutlichen und konkrete
Vorstellung von dem, was Leben heißt, und Glück, von dem was erstrebenswert ist
und ein lohnendes Ziel. Selbstverständlich versuchen wir dabei, möglichst anständig
uns zu verhalten. Aber das Wichtigste ist doch Gesundheit, und
selbstverständlich ein gesicherter Lebensunterhalt, und dann soll doch dieses
Leben möglichst dauerhaft und sicher sein, nicht ständig bedroht von Krankheit
und Mittellosigkeit, und von der Möglichkeit, plötzlich aus diesem Leben
herausgerissen zu werden. Das sind so ungefähr unsere Vorstellungen von dem,
was Leben heißt. Und wir sind sehr leicht zu dem Gedanken versucht, Gott müsse
sich doch möglichst diesen Vorstellungen anbequemen. Doch was wir an dem Leben
Christi sehen, das schlägt dem doch geradezu ins Gesicht. „Er hielt es nicht
für einen Raub Gott gleich sein.“ Er hat also nicht die Lebenshöhe, die er
einmal innehatte – die göttliche, uns unberechenbare Lebensweise – mit aller Kraft
festzuhalten versucht; nicht darauf kam es ihm an, seinen einmal erreichten
Lebensstandart mit allen Kräften zu halten. „Er erniedrigte sich selbst…“ Nicht
ein unwiderstehlicher Zwang, ein übermächtiges Schicksal, war es, dass ihn von
seiner Höhe herab riss. „Er ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.“
Darin gipfelt die Aussage des Paulus über Gottes Wesen, das uns in Jesus
Christus klar und offen vor Augen liegt. Wir können es nur in harten sich
widersprechender Aussagen ausdrücken, was unseren Verstand so zuwider läuft,
und was doch der Inbegriff göttlicher Wahrheit ist. Seine Herrlichkeit ist
Erniedrigung; Seine Stärke ist Schwachheit; sein Werden ist Vergehen; sein
Leben ist Sterben. Dieses göttliche Gesetz hat Jesus Chrisus bis zum Ende, zum
bitteren unwiderruflichen Ende durchgehalten. Er ist nicht vom Kreuz
herabgestiegen, wie ihm seine Feinde in bitterem Hohn geraten haben. Nein, er
hat durchgehalten, bis es nach dem Gesetz dieser Welt, das das Gesetz des Todes
ist, unwiderruflich Schluss war mit ihm. „Darum hat ihn auch Gott erhöht, und
hat ihn einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu
sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der
Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr sei,
zur Ehre Gottes, des Vaters.“
3)
Und nun steht er in seiner
ganzen unaussprechlichen Größe vor uns, der Anspruch, der der Apostel Paulus –
ja mehr, den Gott selber auf uns erhebt: „Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus
Christus auch war…“ Freilich, das heißt nun nicht, dass wir alle das Leben Jesu
einfach kopieren sollen. Dass wir im Land umherziehen und predigen sollen, um
uns dann schließlich als Verbrecher hinrichten zu lassen. Nein! Paulus
erläutert es mit ganz einfachen Worten, was das für uns heißt: Nichts tun durch
Dank oder eitle Ehre; sondern durch Demut achte einer den andern höher denn
sich selbst; und ein jeglicher sehe nicht auf das Seine, sondern auf das, was
des andern ist. Das sind ganz einfache, klare Anweisungen, liebe Freunde, die
ich eigentlich gar nicht zu erläutern brauche. Jeder sehe nicht auf das Seine,
sondern auf das, was des andern ist: Das ist so klar, dass jeder es begreifen
kann, dass jeder auch, wenn er nur ein wenig nachdenkt, erkennen mag, was das für
ihn persönlich an Konsequenzen mit sich bringt. Freilich! Will sich da nun
nicht bei jedem von uns sogleich wieder der Einwand melden: wie wird es dann
aber mir gehen, was soll aus mir werden? Wenn ich so lebe, dann komme ich doch
bestimmt unter die Räder. Gerade diesen …liebe Freunde, soll das Bild des
Gekreuzigten aus dem Felde schlagen. Gott selber garantiert dir, dass du eben
nicht unter die Räder kommst, was immer dir auch geschehen mag und sei es
Krankheit, Not und Tod. Denn wer dem Gesetz seines Lebens folgt, das uns in dem
Gekreuzigten vor Augen steht, den belohnt er aus … Amen.