13. n. Trinitatis 24.8.1975 Möhrendorf / Dechsendorf
Joh 9
Liebe Gemeinde,
was hier von der Heilung des Blindgeborenen erzählt wird, ist als Gleichnis und Beispiel gemeint für das, was dort geschieht, wo Menschen mit Jesus zusammen treffen. Das deuten die Jesusworte an, von denen die Geschichte hier gleichsam eingerahmt ist: „Dieweil ich bin in der Welt, bin ich das Licht der Welt“ – so am Anfang. Und: „Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, auf dass die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden.“ Wir folgen dieser Anweisung der Erzählung, und fragen danach, was das heißt: Sehen – im Lichte, das Jesus selbst ist.
Sicher: Was da erzählt wird, das ist der Bericht von der Heilung eines Blinden, und das wunderbare Geschehen dieser Heilung wird uns berichtet in Einzelheiten, die uns vielleicht gar nicht recht einleuchten wollen. Aber auch bei dem Menschen, der da geheilt wird, kommt es weniger auf das leibhafte Sehen mit leibhaften Augen an – als auf ein Verstehen, das durch Jesus ermöglicht wird, und für das das leibhafte Sehen allein Bild und Gleichnis ist. Danach also fragen wir – nach diesem Sehen. Was ist das: Sehen im Licht, das Jesus selbst ist?
Ich will das so ausführen, dass ich drei Stichworte dazu nenne: Führung, Freiheit, Glaube. Das sind die Stationen, auf denen der Mensch, von dem hier erzählt wird, sehen lernt in dem Licht, das Jesus selbst ist. Und indem wir den Weg dieses Lernens nachdenken, können wir vielleicht auch für uns selbst ein Stück weit erfassen, wo wir in diesem Lernen stehen. Denn wir alle lernen das – Sehen in dem Licht, das Jesus selbst ist. Und wollen uns gewiss nicht den Vorwurf einhandeln, mit dem unser Text schließt: Dass wir blind sind – weil wir meinen, wir könnten sehen, und darum nicht fähig sind, jenes Sehen zu lernen, von dem hier die Rede ist.
Wir beginnen mit dem ersten Stichwort: Führung. Der Mensch, an dem Jesus vorüber kam, hatte gewiss kein leichtes Schicksal: Blind, ohne Chance, seinen Lebensunterhalt zu erwerben, angewiesen auf die Mildtätigkeit seiner Mitmenschen. Doch nun kommt es nicht bloß auf dieses Schicksal an, sondern darauf, es zu verstehen, zu bewältigen. Und da gab es eine allgemeine Regel, die Jesu Begleiter auf dieses Schicksal anwenden wollten: Blindheit ist Sündenstrafe. Fragt sich bei diesem Blindgeborenen nur, wer da gestraft werden sollte: Er selbst oder seine Eltern. Uns scheint dieses Verstehen hart zu sein, brutal, - wir haben hier andere Regeln, bemühen uns, human umzugehen mit unseren Sorgenkindern. Doch nun sollen wir begreifen: Jede Regel ist verkehrt, die das Schicksal eines Menschen auf einen allgemeinen Nenner bringen will. Auch die humane Regel: Unsere Sorgenkinder sind dazu da, dass wir uns um sie annehmen. Das ist richtig – solche Teilnahme. Aber was da gesagt wird, ist deshalb falsch, weil es das Schicksal gleichsam von außen beurteilt und den Menschen in seiner Besonderheit auf einen allgemeinen Nenner bringen will. Achten wir darauf, wie viele Allgemeinheiten wir beibringen: Für die Lebensumstände eines Menschen – dass er Türke ist und bei uns Arbeit suchen muss, oder dass er Flüchtling ist, Heimatvertriebener – bis hin zu den Gemeinplätzen, mit denen wir die Opfer des Straßenverkehrs bedenken – „ein tragischer Unglücksfall“.
Jesus wehrt das ab – nimmt die Besonderheit ernst, sieht in der Blindheit dieses Menschen seine ganz besondere Führung, durch die er mit Jesus zusammen kommt, und die die Gottes Werk an ihm offenbar wird. Es mag sein, dass uns die Dramatik gerade dieser Führung nun doch in gewisse Schwierigkeiten bringt – weil wir es da schwer haben, uns selbst wieder zu finden. Denn bei uns geht das ja in der Regel nicht so dramatisch zu wie hier. Wir sollten die Besonderheit wahrnehmen – beispielsweise des Elternhauses, das uns mit Jesus zusammen gebracht hat, oder des Ehegatten, oder bestimmter Lebensumstände. Denken wir darüber nach – wieso sind wir jetzt hier? Unser Schicksal, unsere Führung: Dieses ganz unverwechselbar Besondere, das wir bei uns wahrnehmen, das können und müssen wir dann auch Anderen zugestehen. Dann ist es mit den allgemeinen Urteilen, die sonst so bequem zu sein scheinen, gewiss aus – Dass man bloß noch fragt: Ist er selbst schuld – oder seine Eltern – und damit ist der Fall vorbei.
Das also zuerst, wo wir sehen lernen in dem Licht, das Jesus selbst ist: Wir sehen Führung, das ganz besondere, unverwechselbare Werk Gottes an meinem Leben, durch das ich mit Jesus zusammen gekommen bin. Und also auch andere Menschen in ihrer unverwechselbaren Besonderheit. Doch eben damit werden wir in die Freiheit hinein geführt. Das zeigt uns die Erzählung an dem Blindgeborenen. Ist ihm eigentlich eine Wohltat geschehen – dass er nun sieht? Hat er es jetzt nicht viel schwerer – in der Besonderheit, in die er durch Jesu Werk hinein geriet? Wir sehen, wie er in den Mittelpunkt eines aufgeregten Fragens gerät: Ist er’s wirklich? Und weil sich das wirklich nicht gut bestreiten lässt: Was soll man nun eigentlich zu dieser Geschichte sagen? Eine gewisse Ratlosigkeit ist schon da, vor allem deshalb, weil auch die Pharisäer sich zunächst nicht einig werden konnten. Wir kennen das: Es gibt solche Leute, an denen man sich orientiert, deren Meinung wichtig ist, mit denen man übereinstimmen möchte. Sie repräsentieren Erfolg und Erfahrung, und ihr Urteil gilt! Hier erst recht: Wo noch das ganze Gewicht der religiösen Tradition dazu kommt: Wir sind Moses‘ Jünger – und wir wissen, dass Gott mit Mose geredet hat. Und darum ist es mit Jesus nichts – weil er an diesem Maßstab gemessen durchfällt. Wer den Sabbat nicht hält, ist Sünder.
Wieder stoßen wir da auf eine solche allgemeine Regel – die hier nun auf Jesus angewendet wird. Und der Blindgeborene soll diese Regel und ihre Anwendung auf Jesus anerkennen – so wie das seine Eltern getan haben, indem sie ihm die Entscheidung zuschoben. Wir kennen das: Nicht bloß als verbale Anerkennung, sondern als Handlungsanweisung. Wertung, Konformismus, bis hin zu politischen, wirtschaftlichen Entscheidung. Aber der da sehen lernt in dem Licht, das Jesus selbst ist, der ist in die Freiheit geführt, die sich nicht an solche allgemeinen Regeln hält, sondern an das, was sie selbst sieht.
Eine Zwischenbemerkung: Manch einer fragt sich, ob er wirklich glaube und wie das sei (gerade dann, wenn die eigene Führung nicht jene eindrückliche Dramatik hat). Es ist vielleicht das ein Zeichen, dass wir die Freiheit haben, zu sehen, nicht in dem Klischee – Freiheit zum Widerspruch! Freiheit, das ist das zweite Stichwort: In sie wird geführt, wer in dem Licht sehen lernt, das Jesus selbst ist. Wir sollten darüber nicht erschrecken, auch wenn solche Freiheit eine anspruchsvolle Sache ist. Sie kann riskiert werden, diese Freiheit, denn sie hat ihren Halt im Glauben. Das ist nun das dritte Stichwort: Als sie den Blindgeborenen ausgestoßen hatten, trifft der noch einmal mit Jesus zusammen. Er hat sein Schicksal als Führung Gottes erfahren, er ist in die Freiheit des eigenen Sehens geführt worden, und musste diese Freiheit durchstehen in der Isolierung, in die er geraten ist (schmerzlich sicher vor allem die Erfahrung, die er mit seinen Eltern machte). Aber nun gewinnt er in Jesus seinen Rückhalt – Bindung, eine Möglichkeit der Identifikation, die ihn die Freiheit durchstehen lässt, in die er geführt worden ist. Das heißt hier Glaube. Wir tun gut daran, gerade auch das zu bedenken: Freiheit, die selbst sieht, lässt sich nur so durchstehen, dass sie ihren Rückhalt in Jesus gewinnt. Sonst sind wir rasch wieder drin in Pauschalurteilen und Klischees!
Wie wir dazu kommen? Sicher über die Anderen, die mit an Jesus glauben. Aber nun doch so, dass wir auch hier kritisch bleiben – und darum brauchen wir Jesus selbst, wie ihn uns die Bibel nahe bringt. Denn bloß damit, dass wir hier nun zu religiösen Pauschalurteilen kommen, ist es gewiss nicht getan! Mit denen fängt unsere Erzählung an – aber wir sollen ja gerade von solchen Pauschalurteilen weggeführt werden – hin dazu, dass wir sehen in dem Licht, das Jesus selbst ist! Führung – Freiheit – Glaube, das ist der Weg, solches Sehen zu lernen.