Impulsreferat zur Eröffnung der Tagung „Wozu brauchen wir Religion“
Während es noch zu Beginn meines Studiums als ausgemacht galt, dass die Welt immer säkularer wird – und das Christentum darum am besten beraten ist, endgültig seine religiösen Eierschalen abzuwerfen, erleben wir seit einigen Jahren gegenläufige Tendenzen.
Da ist zum einen die „Wiederverzauberung der Welt“ um als Stichwort einen Buchtitel von Morris Berman zu gebrauchen.
Da ist zum anderen die erstaunliche Lebendigkeit und Gegenwart sehr unterschiedlicher Phänomene, die man üblicherweise unter dem Begriff der Religion zusammenfasst.
Also zum einen eine Art neue Romantik, vergleichbar seinerzeit der Gegenbewegung zu Aufklärung und Rationalismus. Die dazugehörigen Lebensäußerungen reichen von der Begeisterung für Harry Potter und den Herrn der Ringe über die Rollenspiel- und Mittelalterszene bis hin zu Alternativmedizin und Technikverweigerung.
Zum anderen feiern die bereits totgesagten alten Religionen fröhliche Urständ. Der Islam erweist sich als äußerst vital, der Papst liefert sich in der Gunst des Boulevards ein Kopf an Kopf-Rennen mit dem Dalai Lama. In amerikanischen Schulen wird die Evolutionslehre aus den Schulbüchern gestrichen, und die freien Pfingstkirchen gelten als die am schnellsten wachsende religiöse Gemeinschaft aller Zeiten.
Wozu brauchen wir Religion?
Natürlich könnte man nun frohlockend versuchen, diese vorhandenen Strömungen auf die eigenen Mühlen zu leiten und so von den neuen Tendenzen zu profitieren. Keine Frage, Versuche dieser Art gibt es genug. Wie im Impulspapier der EKD „Kirche der Freiheit, Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“, wo es unter der Überschrift „Gib den Chancen eine Chance“ wörtlich heißt: „Die gesellschaftliche Situation ist günstig. Ein neues, plural geprägtes Interesse für religiöse Fragen bestimmt unsere Gegenwart, das mit dem Stichwort der Wiederkehr des Religiösen nur grob gekennzeichnet ist. Dieses neue religiöse Interesse muss bewusst als ein besonderes Zeitfenster für neue kirchliche Initiativen genutzt werden.“ Wir sollten vorsichtig sein, hier kurzschlüssig aus der Befindlichkeit anderer Leute eigenen Profit machen zu wollen. Und ich denke, wir haben genug Vorsichtige unter uns, bei denen die Warnlampen leuchten, wenn der Begriff der Religion gar zu arglos für die eigene Sache beansprucht wird.
Eine andere Antwort liegt näher. Nicht wir brauchen Religion: Die Gesellschaft braucht uns – als Fachleute für Religion. Als solche, die unterscheiden können. Nach welchen Kriterien? Davon später und an anderer Stelle mehr. Das ist das Thema von Karl Eberlein morgen vormittag.
Eine weitere Antwort lautet. Wir werden im Kontext der Religion wahrgenommen. Wir brauchen Religion also in dem Sinne, dass wir sie machen, ob wir wollen oder nicht. Was wir tun oder bleiben lassen, wird von anderen im Bezugsrahmen der Religion betrachtet.
Wir brauchen also Religion, so wie ein Politiker Politik braucht, eine Wissenschaftler Wissenschaft oder ein Künstler Kunst. Der Künstler mag noch so sehr darauf bestehen, dass er eigentlich Politik macht, seine Tätigkeit wird doch als Kunst betrachtet werden. Der Politiker mag noch so viel Wert darauf legen, dass er eigentlich Wissenschaftler ist wie im Falle Paul Kirchhof, es wird ihm nichts nützen. Und so weiter. Klar, dass die Begriffe Politik, Wissenschaft und Kunst extrem weit und darum unscharf sind. Klar, dass wir uns in der Schublade „Religion“ nicht unbedingt zuhause fühlen, aber sie kommt uns zu. Und darum werden uns auch bestimmte Themen zugeschrieben und bestimmte Erwartungen an uns herangetragen: Wir müssen uns wohl oder übel irgendwie auskennen mit dem Verhältnis von Diesseits und Jenseits. Wir müssen wohl oder übel irgendwas sagen und tun können, wenn Menschen in Extremsituationen und in Übergangssituationen mit der normalen Alltagslogik nicht mehr zurechtkommen und sich deshalb auf „Religion“ besinnen. Und glücklich, wer dann etwas Gutes zu sagen und zu tun weiß.
Nun ließe sich lange darüber sprechen, was eigentlich Religion ist und was an dieser Definition dann auf uns passt und was nicht. Darüber werden wir an diesem Wochenende bestimmt auch miteinander sprechen. Heute abend will ich einen anderen Einstieg versuchen. Ich nehme es einfach als gegeben hin, dass ich im Kontext der Religion wahrgenommen werde und zeige an einem Beispiel, was das für mich bedeutet.
Wer die Prackenfelser Mailingliste verfolgt, weiß, dass ich im christlich-muslimischen Dialog engagiert bin. Was heißt das konkret?
Seit 1996 gibt es in Erlangen eine christlich-islamische Arbeitsgemeinschaft. Sie wird von Alt-Oberbürgermeister Dietmar Hahlweg moderiert, der sie auch gegründet hat.
Wenn man nun unsere Treffen anschaut, die Teilnehmerlisten studiert und die Protokolle liest, kann man sich sehr verwundern. Aus zwei Gründen:
1. In dieser Arbeitsgemeinschaft findet gar kein christlich-islamischer Dialog statt. Es gibt vielmehr eine stillschweigende Übereinkunft, Grundsatzfragen auszuklammern.
2. In dieser Arbeitsgemeinschaft begegnen sich Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen. Man kann sie fünf Bereichen zuordnen: a) Vertreter der beiden großen christlichen Kirchen, b) Vertreter der beiden Erlanger Moscheegemeinden, c) Vertreter der Kommune, also des Bürgermeisteramtes, des Ausländerbeirats und der städtischen Schulen, d) Vertreter der Universität, e) interessierte Einzelpersonen. Das heißt: die meisten Mitglieder sprechen gar nicht für ihre Religion und werden auch nicht als deren Vertreter wahrgenommen. Die teilnehmende Bürgermeisterin spricht ebensowenig als Christin wie die Hauptschullehrerin. Der syrische Arzt spricht ebensowenig als Muslim wie der türkischstämmige Vorsitzende des Partnerschaftsvereins Erlangen-Besiktas.
Wir haben also das Phänomen, dass sich in Erlangen eine christlich-islamische Arbeitsgemeinschaft gebildet hat, die weder paritätisch christlich-islamisch ist, noch das Verhältnis von Christentum und Islam zum Thema hat. Man könnte zusammenfassend feststellen: Hier hat die Zuschreibung von außen zwar dazu geführt, dass Leute sich in einer Schublade zusammenfinden. Aber was sie in Wahrheit verbindet, hat mit dieser Zuschreibung von außen gar nichts mehr zu tun, selbst wenn diese außen draufsteht. In Wahrheit haben diese Leute nur eines gemeinsam: Dass sie gerne beisammen sind, miteinander reden und „der Stadt Bestes“ suchen. Die gemeinsame Zuschreibung von außen erweist sich also keineswegs als Gemeinsamkeit. Es ist nicht das Religiöse, das hier eine Verbindung schafft. Im Gegenteil hat sich sehr rasch gezeigt, dass religiöse Fragen lieber anderswo verhandelt werden, zum Beispiel in eigens veranstalteten Vorträgen unter Schirmherrschaft der Volkshochschule eines kirchlichen Bildungsträgers oder eines Moscheevereins. Da trifft man sich dann wieder, aber mit anderem Setting. Und jeder von uns kennt ja die Erfahrung, dass Religion Menschen ebensowenig selbsttätig miteinander verbindet wie Politik, Wissenschaft oder Kunst. Überall, wo es um Wahrheitsfragen, Sinnfragen, Überzeugungen, Traditionen geht, lassen die Leute erfahrungsgemäß nicht mit sich spaßen. Da geht es rasch ans Eingemachte. Religion ist kein Anlass, um sich zu vertragen.
Wozu brauchen wir Religion?
In diesem konkreten Erlanger Falle offenbar nur als Anstoß, um die Leute zusammenzubringen, die sich ohnehin gerne treffen, die sich füreinander interessieren, gerne etwas Neues lernen und gemeinsam etwas für das friedliche Zusammenleben in der Stadt Erlangen tun wollen.
Zum Schluss will ich freilich doch noch auf eine andere Ebene zu sprechen kommen. Abseits der christlich-islamischen Arbeitsgemeinschaft in vielen Gesprächen mit Muslimen, teils privat, teils öffentlich geführt, habe ich einiges über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen uns gelernt. Dazu will ich jetzt noch einige Worte sagen. Vorneweg: Weder die Gemeinsamkeiten noch die Unterschiede liegen im Begriff der Religion begründet.
Wer öfter mit Muslimen Gespräche führt, kann immer wieder feststellen, mit welcher Selbstverständlichkeit diese davon ausgehen, dass wir den selben Gott verehren. Aus ihrer Perspektive hat der Koran zwar die Offenbarungen zu einem Abschluss gebracht und dabei zugleich alles korrigiert, was in der Überlieferungsgeschichte der Bibel verdorben wurde. Deshalb wird der Koran als Zusammenfassung der Bibel betrachtet und macht deren Lektüre überflüssig. Es ist fast rührend, wie verblüfft Muslime reagieren, wenn man aus der Bibel zitiert und dabei Unterschiede zum Koran zu Tage treten. Und wie naiv sie umgekehrt aus dem Koran zitieren und dessen Aussagen auch unter Christen für allgemein konsensfähig halten. Je länger ich mich mit dem Islam beschäftige, für desto geringer halte ich die tatsächlichen Gemeinsamkeiten. Gleichzeitig wird mir paradoxerweise die Überzeugung, dass wir uns tatsächlich an einen und denselben Gott wenden, immer selbstverständlicher. Ich sehe in den Muslimen eine wunderliche Folgerung der Erwählungsgeschichte Gottes mit seinem Volk. Durch den Ismaeliten Mohammed hat die arabische Halbinsel ihren schon verlorenen Zipfel der Erwählungsgeschichte wieder zu fassen bekommen und hält diesen Saum von Abrahams Rock nun mit so zähem Nachdruck fest, als sei er das ganze Gewand. Und dieser Zipfel ist erstaunlich stabil. Viele Völker haben sich seither mit angehängt, ohne dass er abgerissen wäre, Perser, Inder, Afrikaner und Indonesier.
Von einem kleinen Zipfel spreche ich, weil der Koran eine wirklich winzige Textgrundlage ist, im Vergleich zur Bibel. Dazu kommt, dass ein beträchtlicher Teil in so verdichteter, verkürzter und zugleich altertümlicher Sprache verfasst ist, dass er in hohem Maße auslegungsbedürftig ist. Für mich stellt sich manchmal der Vergleich: Was wäre aus uns geworden, wenn wir als Heilige Schrift nur den Römerbrief hätten und sonst nichts? Wir hätten damit zwar alles, von der Schöpfung über die Erlösung bis zur Eschatologie. Wir hätten auch noch Adam, Abraham, Mose und Jesus. Aber wie wenig hätten wir zugleich. Und wie sähe dann das Gespräch mit einem Juden aus, der den Reichtum seiner Überlieferungen vor uns ausbreiten kann?
Mit diesen Stichworten hinsichtlich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede will ich es vorerst bewenden lassen. Der umbrella term „Religion“, unter dem wir uns als Christen und Muslime gemeinsam vor dem unfreundlichen Wetter des Unglaubens bergen könnten, hilft nicht weiter. Wenn es ihn gibt, dann existiert er nur als Gerippe, ohne Dach, so dass wir ihn gleich wegwerfen können. Oder er ist so groß, dass der Ungläubige auch noch mit drunter passt.
Dr. Holger Forssman
Prackenfels, im Januar 2007