Karin Ulrich-Eschemann

                                                          Predigt zu Mk 3, 31- 35
                                                               (21.08.05)

31 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.
 32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.
 33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder?
 34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!
 35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

Liebe Gemeinde,
dieser Text ist in der Lutherbibel überschrieben mit fettgedruckten Buchstaben: Jesu wahre Verwandte. Die Überschrift ist vielleicht ein bisschen irreführend, gewiss aber provozierend. So könnten wir uns heute morgen auch fragen, jeder für sich: wer sind meine wahren Verwandten? Oder: wem fühle ich mich verwandtschaftlich verbunden, wer ist mir zugehörig, oder: wer hält zu mir, wer steht zu mir, wer hilft mir oder wem helfe ich? Wir denken an die leiblichen Verwandten, aber vielleicht denken manche auch an die Familie Gottes, als die wir uns heute morgen hier versammelt haben. Ist das die wahre Familie? So können wir fragen, aber auch ganz persönlich: Ist das mein Zuhause?
Gewiss sieht das bei jedem von uns ein bisschen anders aus: Manch einer hat keine Familie mehr, mancher erinnert sich nur noch daran, und die Erinnerungen sind nicht unbedingt  gute Erinnerungen. Da fühlt sich der oder die eine sehr wohl in der Familie, manche nicht. Manche bedauern, dass es keinen Kontakt mehr oder zu wenig Kontakt gibt zu den Kindern, manche fühlen sich im Stich gelassen von den Verwandten. Es ist sehr unterschiedlich, wie wir Familie leben, erleben. Das ist nicht immer gleichbleibend.
Gewiss könnte jeder von uns eine Menge darüber erzählen, und ich fände es spannend, ihnen zuzuhören. Das Thema Familie steht ja  zur Zeit in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion auf der Tagesordnung, gerade jetzt in Zeiten des Wahlkampfs. Viele meinen, etwas dazu sagen zu können. Viele wollen helfen, das Beste zum Gelingen der Familien beizutragen...
Liebe Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern der Gottesfamilie, wir  haben gemeinsam die Geschichte über Jesus und seine Familie gehört. Seine Brüder und Schwestern und die Mutter Maria werden genannt. Die leibliche Familie Jesu sucht den Kontakt zum Sohn und Bruder, der als Wanderprediger umherreist und das Volk belehrt, vom Reich Gottes predigt und die Menschen eindringlich zu Gott einlädt. Die leibliche Familie muss sich abweisen lassen.
Ist die leibliche Familie Jesus nichts mehr wert, hat er Wichtigeres, Größeres zu tun? So mögen auch heute manchmal Familienangehörige fragen, wenn  der Vater oder die Mutter zu sehr mit dem Beruf beschäftigt sind. Oder Eltern, wenn Kinder nur noch ihr eigenes Leben außer Haus leben wollen, zusammen mit Freunden und die Familie nur noch als Absteige benutzen. Alles andere einfach wichtiger ist. Oder  eine große Aufgabe, eine große Berufung, wie hier bei Jesus, für einen Menschen im Mittelpunkt seines Lebens steht.
Zu schnell aber wird vergessen, dass Jesus bis zum Kreuz seine leibliche Familie hatte und Maria beim Tod Jesu am Kreuz dabei ist. Sie kennen gewiss Pietadarstellungen, auf denen die leidtragende Maria mit ihrem toten Sohn im Arm zu sehen ist. Dieses Geschehen hat viele Künstler angeregt und gewiss vielen Menschen geholfen und die getröstet, die ähnliches erfahren haben. In der Apostelgeschichte wird davon erzählt, dass Maria bei der ersten Jerusalemer Gemeinde dabei war, ebenfalls die Brüder Jesu. Jesus hatte seinen Vater Josef, aber der Platz des Vaters bleibt für Gott reserviert. So könnte man sagen. Die leibliche Familie Jesu ist also durchaus im Blick, und dies nicht nur in Konfrontation zur geistlichen Familie, zur Gottesfamilie.
In der Geschichte wird nicht erzählt, was die leibliche Familie von Jesus will. Es scheint so, dass sie vorsichtig draußen stehen, sich nicht hereintrauen. Haben sie ein dringliches Anliegen? Sie schicken jemanden zu ihm und lassen ihn rufen? Warum gehen sie nicht selbst hinein, wie das in einer Familie eigentlich üblich ist, warum sitzen sie nicht mit unter dem Volk, zu dem Jesus predigt? Ist Jesus für sie zu groß geworden, zu unnahbar – der Sohn Gottes? Es kommt jedenfalls zu keinem Kontakt. Das Volk, das um ihn sitzt , erzählt Jesus von seiner Familie vor der Tür. Jesus antwortet ihnen mit einer Frage: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder ?“  Jesus sagt nicht einfach zum Volk um ihn herum: „Ihr seid meine Mutter und meine Brüder und Schwestern, meine neue Familie. Punktum. Ich will mit der alten, der leiblichen Familie nichts mehr zu tun haben.“ So ist das allerdings auch ausgelegt worden, familienkritisch.
Bei diesen Auslegungen stand der radikale Ruf Jesu in die Nachfolge im Zentrum: Verlasse alles, was dich bindet, woran dein Herz hängt, Weib und Kind, Besitz und Reichtum und anderes mehr und folge mir nach. Jetzt ist die Zeit, es drängt. In allen Zeiten haben das Menschen, die Christen geworden sind,  erfahren, dass sie von ihren leiblichen Familien ausgestoßen worden sind, aber auch so, dass sie tatsächlich eine ganz neue Heimat in der Gemeinde gefunden haben, die in Konkurrenz trat zur leiblichen Familie.
In einem Seminar mit Studierenden erzählte ein etwas schwieriger Student, mit dem es die anderen Studierenden nicht so leicht hatten, von sich selbst. Er vertrat seine Meinung oft recht verbissen und kannte nur richtig oder falsch. Als er dann erzählte, ist mir einiges klar geworden und ich habe diese seine Geschichte nicht vergessen. Er erzählte von seiner schlimmen Kindheit, seinem bösen Vater, einem Trinker,  und von seiner Drogenabhängigkeit und seiner verkorksten Jugend. Er sprach von seiner Bekehrung und davon, wie liebevoll er in einer Adventistengemeinde aufgenommen worden ist. Er sagte dies ganz überzeugt: Gott ist mein Vater, und ich muss mich um den alten und das, was er mir getan hat, nicht mehr kümmern. Er kann mir nichts mehr anhaben. Wir hörten stumm zu und sagten nichts mehr. Für den Moment verstummte die Kritik an ihm.
Ja, so kann es für Menschen sein, dass die Gemeinde ihnen so etwas wie eine gute Familie ist, dass sie ganz aufgehen in der Gottesfamilie oder sich zumindest eng mit den anderen Geschwistern verbunden fühlen. Andere sehen sich in größerem Abstand zu den anderen Mitchristen und Christinnen, wollen lieber für sich sein. Durch Christus, den Herrn der Gemeinde, gehören wir zusammen und werden immer wieder neu miteinander verbunden.
So wird das heute von vielen Menschen als Wunsch geäußert, gerade von denen, denen es in ihrer Kirche nicht mehr gefällt. Sie wollen sich wohl fühlen, sich geborgen und akzeptiert wissen. Sich wohl fühlen in ihrer Gemeinde, von allen geliebt werden. Das sind alles ganz verständliche Wünsche unseres Herzens. Und es gibt aktive Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Gemeinden, die alles daran setzen, dass die Gemeinde zu einem heimatlichen Ort für möglichst viele Menschen wird, die in einer garstigen Welt nicht mehr zurechtkommen, umherirren und ihren Platz nicht finden.
Das  ist schön und gut. Aber kann die Gemeinde wirklich Heimat sein in dem Sinn, das wir in ihr und mit ihr genug haben, uns nur in ihr aufhalten und uns Mühe geben, uns gegenseitig zu lieben? Soll die Gemeinde Jesu Christi eine Wohlfühlgemeinde sein, eine Heimat im Sinne des Gemütlichen und Vertrauten, wo wir uns ausruhen? Eine Überzeugungsgemeinde, wo alle gleicher Meinung sind? Kann ich mir dann nicht die Gemeinde aussuchen, die mir gefällt? So scheint es weitgehend in den USA zu sein. Menschen wechseln häufiger die Kirche und suchen die aus, die ihnen gefällt, die ihren momentanen Bedürfnissen entspricht. Es gibt die großen Megagemeinden von zigtausend Mitgliedern, die nicht mehr unbedingt einer Denomination angehören, die sich einfach einen Namen geben. Gemeinden, die die Bedürfnisse der Gemeindeglieder befriedigen wollen so wie die großen Malls, Einkaufszentren, wo man alles in ansprechendem Ambiente erledigen kann.
Die Frage nach der Heimat ist gewiss einerseits eine richtige Frage, aber Gemeinde und Gottesdienst ist auch der Ort, wo Menschen von Gott angeredet werden, getröstet werden, gestärkt werden im Glauben, aber auch herausgefordert werden, sich beanspruchen lassen  und sich senden lassen zum Dienst in der Welt. Wohlfühlgemeinden, Überzeugungsgemeinden, Gemeinden als Heimat? Da ist was dran, aber wir müssen auch kritisch hinsehen, erst recht wenn wir das folgende Wort Jesu hören, das uns herausreißt aus unseren Träumen von der Gemütlichkeit der Zusammengehörigkeit:  „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“  
Jesus sagt es den Menschen, die um ihn herum sind, einerseits zu „Ihr seid meine Mutter, meine Brüder und meine Schwestern ...“ Aber dabei belässt er es nicht. Fast scheint es so, als ob Jesus eine Bedingung mit dieser Zusage verknüpft. „Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ Vom Willen Gottes zu sprechen, ist uns das noch vertraut, obwohl wir ja sonntäglich im Vaterunser beten: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe“. Jesus selbst hat es gebetet: Dein Wille geschehe. Wir sprechen gerne von unserem Willen, dem Patientenwillen etwa, vom starken Willen eines kleinen Kindes, von einem willensschwachen Menschen, wir sprechen von Selbstbestimmung und Autonomie - aber vom Willen Gottes sprechen? Gottes Wille ist nicht irgend etwas Dubioses, das letztlich schicksalhaft entscheidet oder hinter unserem Rücken wirkt. Der Wille Gottes ist nichts Geheimnisvolles im Hintergrund, sondern immer etwas Bestimmtes, etwas Klares. Den Willen Gottes tun, meint auch, anzunehmen, was Gott sich für mich, für mein Leben ausgedacht hat.
Gottes Wille ist es auch, dass wir die konkreten Gebote, die guten Werke tun, jetzt tun, in unserem Alltag tun. So wie uns das die Geschichte vom barmherzigen Samariter zur Anschauung bringt, die als Text diesem Sonntag zugeordnet ist. Jesus beantwortet die Frage nach dem Nächsten mit einer Geschichte, in die er den Schriftgelehrten verwickelt. Sie endet mit dem Aufruf Jesu an uns als Hörer und Hörerinnen der Geschichte: Gehe hin und tue desgleichen. Lass dir jemandem zum Nächsten werden und werde du jemandem zum Nächsten: hier und jetzt. So heißt es auch im Wochenspruch aus dem Matthäusevangelium: Christus spricht: was ihr getan habt einem dieser meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan.
In diesem Sinne werden wir jeden Sonntag aus dem Gottesdienst gesendet in die Welt, dass wir annehmen, was Gott für uns will  und dass wir das tun, was Gott will. Jeder Einzelne von uns, ob er eine leibliche Familie hat oder keine mehr. Es gibt jeden Tag Gelegenheit genug, zu tun, was Gott will – nicht nur in der Familie, aber auch in der Familie. Sicher ist die Gemeinde und der Gottesdienst der Ort, wo wir uns als die Gotteskinder um Gott und Christus versammeln, wo wir uns einander zugehörig fühlen dürfen, auch über den Gottesdienst hinaus. Das muss nicht nur ein Gedanke sein, das kann ein schönes Gefühl, ein heimatliches Gefühl sein.
Es will tröstlich für uns alle sein, wie auch immer es aussieht mit unseren leiblichen Verwandten, unserer leiblichen Familie. Wir sind alle als einzelne Person und wir sind als Familien der Gottesfamilie zugehörig als die Kinder Gottes und haben den einen Vater im Himmel und den gemeinsamen Bruder Jesus Christus, den Gott zum Herrn der Gemeinde eingesetzt hat. Und doch sollten wir auch dies ernstlich bedenken: „Als Volk Gottes ist die Kirche auf dem Weg und darf es sich dabei nicht gemütlich machen. Die Glieder des Leibes Christi sind nicht in erster Linie dazu da, um sich aneinander zu wärmen, sondern um an ihrem Haupt Maß zu nehmen. Der Heilige Geist dient nicht in erster Linie der privaten oder gemeinschaftlichen Erbauung, sondern treibt die Gläubigen über alle Grenzen hinaus an die Hecken und Zäune.“